Das Loch im Ärmel


Ich hatte einen Spielgesellen und Jugendfreund, Namens Albrecht, erzählte einst Herr Marbel seinem Neffen. Wir beide waren überall und nirgends, wie nun Knaben sind, wild und unbändig. Unsere Kleider waren nie neu, sondern schnell besudelt und zerrissen. Da gab es Schläge zu Hause, aber es blieb beim alten. Eines Tages saßen wir in einem öffentlichen Garten auf einer Bank und erzählten einander, was wir werden wollten. Ich wollte Generalleutnant, Albrecht Generalsuperintendent werden.

„Aus euch beiden gibt’s in Ewigkeit nichts!“ sagte ein steinalter Mann in feinen Kleidern und weißgepuderter Perücke, der hinter unserer Bank stand und die kindlichen Entwürfe angehört hatte.

Wir erschraken. Albrecht fragte: „Warum nicht?“

Der Alte sagte: „Ihr seid guter Leute Kinder, ich sehe es eueren Röcken an, aber ihr seid zu Bettlern geboren; würdet ihr sonst diese Löcher in eueren Ärmeln dulden?“ Dabei faßte er jeden von uns an dem Ellenbogen und bohrte mit den Fingern im durchgerissenen Ärmel hinauf. — Ich schämte mich, Albrecht auch. „Wenn’s euch,“ sagte der alte Herr, „zu Hause niemand zunäht, warum lernt ihr es nicht selbst? Im Anfang hättet ihr den Rock mit zwei Nadelstichen geheilt, jetzt ist’s zu spät, und ihr kommt wie Bettelbuben. Wollt ihr Generalleutnant werden, so fangt an beim Kleinsten. Erst das Loch im Ärmel geheilt, ihr Bettelbuben, dann denkt an etwas anderes!“

Wir beide schämten uns von Herzensgrund, gingen schweigend davon und hatten das Herz nicht, etwas Böses über den bösen Alten zu sagen. Ich aber drehte den Ellenbogen des Rockärmels so herum, daß das Loch einwärts kam, damit es niemand erblicken möchte. Ich lernte von meiner Mutter das Nähen spielend; denn ich sagte nicht, warum ich’s lernen wollte. Wenn sich jetzt an meinen Kleidern eine Naht öffnete, ein Fleckchen sich durchschabte, ward’s sogleich gebessert. Das machte mich aufmerksam; ich mochte an zerrissenen Kleidern nun nicht mehr Unreinlichkeit leiden. Ich ging sauberer, ward sorgfältiger, freute mich und dachte, der alte Herr in der schneeweißen Perrücke hätte so unrecht nicht. Mit zwei Nadelstichen zu rechter Zeit rettet man einen Rock, mit einer Hand voll Kalk ein Haus; aus roten Pfennigen werden Taler, aus kleinen Samenkörnern Bäume, wer weiß wie groß.

Albrecht nahm die Sache nicht so streng. Es ward sein Schaden. Wir waren beide einem Handelsmanne empfohlen; er verlangte einen Lehrburschen, der im Schreiben und Rechnen geübt war. Der Herr prüfte uns, dann gab er mir den Vorzug. Meine alten Kleider waren hell und sauber; Albrecht im Sonntagsrocke ließ Nachlässigkeiten sehen. Das sagte mir der Herr Prinzipal nachher. „Ich sehe Ihm an,“ sagte er, „Er hält das Seine zu Rat; aus dem anderen gibt’s keinen Kaufmann.“ Da dachte ich wieder an den alten Herrn und an das Loch im Ärmel.

Ich merkte wohl, ich hatte in anderen Dingen, in meinen Kenntnissen, in meinem Betragen, in meinen Neigungen noch manches Loch im Ärmel. Zwei Nadelstiche zur rechten Zeit bessern alles ohne Mühe, ohne Kunst. Man lasse nur das Loch nicht größer werden, sonst braucht man für das Kleid den Schneider, für die Gesundheit den Arzt. — Es gibt nichts Unbedeutendes noch Gleichgültiges, weder im Guten noch im Bösen. Wer das glaubt, kennt sich und das Leben nicht. Mein Prinzipal hatte auch ein abscheuliches Loch im Ärmel, nämlich er war rechthaberisch, zänkisch, launenhaft; das brachte mir oft Verdruß. Ich widersprach, da gab es Zank. Holla, dachte ich, es könnte ein Loch im Ärmel geben und ich ein Zänker und gallsüchtig und unverträglich wie der Herr Prinzipal werden. Von Stunde an ließ ich den Mann recht haben; ich begnügte mich, recht zu tun, und bewahrte meinerseits den Frieden.

Als ich ausgelernt hatte, trat ich in eine andere Stellung. Da ich gewöhnt war, mit wenigen Bedürfnissen des Lebens froh zu sein (denn wer viel hat, ist nie ganz froh), so sparte ich manches, und da ich auch gewöhnt war, mir kein Loch im Ärmel zu verzeihen, aber schonend über dasjenige an fremden Ärmeln wegzusehen, war alle Welt mit mir zufrieden, wie ich mit aller Welt. — So hatte ich beständig Freunde, beständig Beistand, Zutrauen, Geschäfte. Gott gab Segen. Der Segen liegt im Rechttun und Rechtdenken, wie im Nußkerne der fruchttragende hohe Baum.

So wuchs mein Vermögen. Wozu denn? fragte ich; du brauchst ja nicht den zwanzigsten Teil davon. — Prunk damit treiben vor den Leuten? — Das ist Torheit. Soll ich in meinen alten Tagen noch ein Loch im Ärmel aufweisen? — Hilf anderen, wie dir Gott durch andere geholfen hat. Dabei bleibt’s. Das höchste Gut, das der Reichtum gewährt, ist zuletzt Unabhängigkeit von den Launen der Leute und ein großer Wirkungskreis. — Jetzt, Konrad, gehe auf die hohe Schule, lerne etwas Rechtes; denke an den Mann mit der schneeweißen Perücke; hüte dich vor dem ersten kleinen Loche im Ärmel; mach es nicht wie mein Kamerad Albrecht! Er ward zuletzt Soldat und ließ sich in Amerika totschießen.

Heinrich Zschokke (1771-1848, Wikipedia)

Bildquelle: Bild von StockSnap auf Pixabay

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