Das Tischgebet


An der Tafel im Gasthaus zum goldnen Stern
waren beisammen viel reiche Herrn.
Vor ihnen standen aus Küch’ und Keller
gar lieblich lockend die Flaschen und Teller.
Schon saßen sie da in plaudernden Gruppen,
die Kellner reichten die dampfenden Suppen
und mehr noch begann Gemüs’ und Braten
mit süßem Wohlgeruch zu laden.

Da kam zur Türe still herein
ein Fremder mit seinem Töchterlein
und setzte sich unten am langen Tisch,
um auch zu kosten von Wein und Fisch.
Oben klirrten die Löffel und Messer,
klangen die Gläser und scherzten die Esser.

Da tönt auf einmal gar hell und fein
eine Stimme in den Lärm hinein,
wie wenn von fern ein Glöcklein klingt,
wie wenn im Wald ein Vogel singt.
Und wie auch der Strom der Rede rauscht,
still wird es rings und jeder lauscht:
der Krieger, der von den Schlachten erzählt,
der Kaufmann, der über die Zölle geschmält,
die Reisenden, die von Abenteuern
gesprochen und von Ungeheuern,
die Stutzer, die von Pferd und Wagen
und Hunden und Moden so vieles sagen.

Und wie sie schauen nach dem Orte,
von woher dringen die lieblichen Worte:
mit gefalteten Händen das Mädchen steht
und spricht sein gewohntes Tischgebet.
Und wie beseelt von höherem Geist
falten auch sie die Hände zumeist
und horchen alle mit rechtem Fleiße
auf des betenden Kindes Weise.
Drauf setzt es sich nieder mit stiller Freude
und achtet nicht auf all die Leute.
Die aber, ergriffen im tiefsten Innern,
mußten sich oft noch daran erinnern.
Und mancher hat wieder gebetet fortan,
was er schon lange nicht mehr getan.

Friedrich Güll (1812-1879, Wikipedia)

Bildquelle: Photo by Ben White on Unsplash

Recent Posts

link to Reinlichkeit

Reinlichkeit

Rein gehalten dein Gewand, rein gehalten Mund und Hand!Rein das Kleid von Erdenputz, rein die Hand von Erdenschmutz!Sohn, die äußre Reinlichkeit ist der innern Unterpfand. Friedrich Rückert...